Sonntag, 20. April 2014

Gute Zeiten -- Schlechte Zeiten

I. und R. lebten sich mehr oder weniger gut ein im Pflegeheim. Wir Kinder fühlten uns dort sehr wohl, irgendwie ebenfalls geborgen. Auf alle Fälle wussten wir die Eltern gut aufgehoben und kompetent gepflegt. Eine grosse Erleichterung nach den aufwühlenden Erfahrungen vergangener Monate.

Das enge Zusammenleben mit den doch sehr unterschiedlichen Bedürfnissen bedeutete für die hochbetagten Eheleute trotzdem jeden Tag eine neue, grosse Herausforderung. Heimleiterin und Pflegepersonal halfen den beiden in liebevoller, verständnisvoller Art und Weise bei der Bewältigung der neuen Lebenssituation.
Als sich bei R. Anzeichen von Altersdemenz bemerkbar machten, bot die Heimleiterin den Umzug in eines der wenigen, eben frei gewordenen Zimmer mit Verbindung zu einem zweiten Zimmer an, damit sich wenigstens die Nächte etwas entspannter gestalten liessen, da R.s Tages-/Nachtrhythmus einer eigenen Logik folgte. Bedauerlicherweise brachte R. diesen Zimmerwechsel mit I.s früherer Scheidungsdrohung in Verbindung. Ein Missverständnis, das zu klären uns nicht mehr gelingen sollte. R. erkrankte kurz darauf an einer Lungenentzündung, von der er sich nicht mehr erholte.

Der Tod ihres Gatten, mit dem I.  allen ihren Drohungen zum Trotz in tiefster Liebe verbunden gewesen war, brachte den Tod ihres ersten Kindes und jene unverarbeitete Trauer mit einem Schlag wieder ins Bewusstsein, zusammen mit der Trauer um ihre früheren, gescheiterten Ehen. Auch dieses Mal montierte Mutter ihren Schutzwall und liess nur ganz wenige Menschen hie und da einen Blick «hinter die Kulissen» werfen. Aus den wenigen Gesprächen, die wir diesbezüglich miteinander führen konnten, entnahm ich, dass Mutter bestrebt war, auch diesen Verlust tapfer zu überwinden. 
Ihre Unnahbarkeit machte mir zu schaffen, war es doch auch für mich ein "déjà vu". So musste ich lernen, dass nicht ich dafür verantwortlich war, dass Mutter auch dieses Mal nicht mich meinte, sondern tief innen mit sich selber rang.

Hilfreich schien dabei, dass sich ein Mitbewohner vermehrt um I. kümmerte. Durch die fortschreitende Parkinson-Erkrankung verlor I. nach und nach die Kontrolle über Essbesteck und Handführung, was leider zu unangenehmen Reaktionen am Esstisch führte. Der neue Kavalier zeigte sich nicht eben mutig und überliess I. ihrem Schicksal, das heisst, der Verbannung vom geistig regen Mittagstisch weg, an den Tisch der "Bedürftigen", wo für die geistig wache Frau fortan leider keine gehaltvollen Gespräche mehr möglich waren.
Parkinson beeinflusst nicht nur die bewegungssteuernden Nervenbahnen, sondern eben auch Stimmbänder, Zunge, Schluckmechanismen, Atmung. Deshalb sprechen die Erkrankten meist sehr leise und zunehmend undeutlicher. Die Kommunikation wird immer schwieriger. Eine leidvolle Entwicklung für Erkrankte wie für ihr Umfeld.

Eines schönen Tages im Sommer 2012 wurde die sehr kompetente und beliebte Heimleiterin aus politischen Gründen nullkommaplötzlich freigestellt, ohne dass sie Bewohnende, Angestellte oder Angehörige hätte informieren oder sich von ihnen hätte verabschieden dürfen.
Ein Schock, der sich nicht nur bei meiner Mutter bis heute auswirkt. Denn in der Folge wurde statt einer Pflegefachperson ein Ökonom mit der Heimleitung betraut, was zum Abgang fast des ganzen Personalkörpers führte. Die neuen Kräfte waren deutlich weniger qualifiziert, dafür konnten angeblich die Personalkosten gesenkt werden. Überflüssig zu erwähnen, dass gleichzeitig die Pensionspreise (nach oben) angepasst wurden.

Es kam zu ersten Pflege-Übergriffen, die meine Interventionen bei der Ombudsfrau wie später bei der kantonalen Gesundheitsdirektion nötig machten. Ein Weg, der sich wiederholen sollte und der in der Folge auch von mehreren anderen Angehörigen beschritten werden musste. Erst nachdem viel Geschirr zerschlagen und das Vertrauen nachhaltig zerstört war, reagierten die politisch zuständigen Gremien. Derzeit versucht sich ein auch im Pflegefach versierter Geschäftsführer zusammen mit (immer noch rege wechselnden) Pflegefachleuten in der (immer noch politisch vorgegebenen) Quadratur des Kreises.

I. ist inzwischen körperlich schwerst pflegebedürftig geworden und für alles und jedes auf Hilfe angewiesen. Auch das Ein- oder Ausschalten des Fernsehers ist nicht mehr möglich. Erblindet und fast ganz gelähmt, sind für Mutter auch Schlucken und Sprechen sehr beschwerlich und anstrengend geworden.
Umso härter trifft es sie und mich, wenn inkompetentes, überfordertes Personal Dienst hat. Denn deshalb kommt es auch heute noch immer wieder einmal zu Übergriffen und folgeschweren Pflegefehlern.

Seit Anfang 2014 wird auch in der Aktivierung kräftig gespart: Zwar wurden die Gruppenaktivitäten ein wenig ausgebaut, dafür müssen jetzt all jene Pensionäre, die nicht mehr an solchen Anlässen teilnehmen können, auf die ihnen zustehenden (und im Pensionspreis inbegriffenen) Anregungen verzichten. Auch die hoch geschätzte, seelsorglich versierte «Badefachfrau» wurde kostensparend wegrationalisiert, weil es ja keine spezielle Ausbildung braucht, um alte, körperlich und seelisch gebrechliche Menschen (z.B. mit dem Kran) baden zu können...

Für die geistig immer noch ziemlich rege I. bedeutet dies, dass sie ausser den selten gewordenen Besuchen von Bekannten und den meist unter Zeitdruck stehenden Begegnungen mit den Pflegenden keine geistigen Anregungen mehr erhält. Kostensparend wird ihr dafür  oft auch ungefragt («Damit sie sich nicht so allein fühlt.»)  der Fernseher eingeschaltet!

Der Umzug

R. war derart geschwächt, dass die weitere Pflege seiner Frau seine Kräfte bei weitem überschritten hätte und er wohl auch kaum noch in der Lage gewesen wäre, für sich allein in die Wohnung zurückkehren zu können.
R.s Tochter und mir oblag es deshalb, einerseits innert Kürze einen Pflegeplatz für die Eheleute zu finden, und anderseits I. und ihren Mann von der Unabänderlichkeit dieses Schrittes zu überzeugen. Der Druck, der seitens des Spitalpersonals auf uns gemacht wurde, ist nicht in Worte zu fassen.
Auf der anderen Seite waren da unsere Eltern, die ebenso überrumpelt wie von der Situation überfordert waren. Kein Wunder, wurde die Kommunikation da zu einer der grössten Herausforderungen meines Lebens!
Schliesslich fanden sich ein freies Ferienzimmer und eine Heimleiterin, die uns sympathisch und kompetent ermutigte und ihre Unterstützung zusagte. Während sich R. freute, gab I. ihre Zusage zu diesem Schritt nur für höchstens 4 Wochen und unter Betonung ihres absoluten Widerwillens. Sie ahnte bestimmt, dass es von dort dann kein Zurück mehr geben würde.
Die Ehebeziehung wurde auf eine harte Probe gestellt, drohte doch I. mit der Scheidung, falls R. mit einem definitiven Umzug einverstanden sein sollte... Trotz ihrer illusorischen Vorstellung hatte diese Drohung eine starke Auswirkung auf den armen Mann. Dass wir alle drei Kinder ihn unterstützten, war ihm vermutlich keine allzu grosse Hilfe, musste er doch täglich 24 Stunden mit seiner wütenden Frau im selben Zimmer verbringen

Einem Nervenzusammenbruch nahe zog ich mich einige Wochen in meine damalige Zweitwohnung in Arosa zurück und überliess den Eltern die volle Verantwortung für ihre weiteren Entscheidungen. Klar war einzig, dass ich, bei einer Rückkehr in die eigene Wohnung, keine Hilfe mehr würde anbieten können.
Während I. mit Abwehr beschäftigt war, blühte R. trotz der Attacken seiner Frau sichtbar auf. Nächte durchschlafen, gesundes Essen, Zuwendung des Personals und soziale Kontakte am Esstisch taten dem geselligen Mann gut. Und das wiederum schien die Wut seiner Frau noch mehr zu schüren
Trotzdem gelang es der erfahrenen Heimleiterin in einem hervorragend geführten  Familiengespräch in Anwesenheit von R.s Kindern, die Sympathien von I. zu gewinnen und die Eheleute vom definitiven Umzug in das Pflegeheim zu überzeugen. Das war kurz vor Weihnachten 2008. Es sollte indessen ein gutes Jahr vergehen, bis I. sich damit abgefunden schien und betonte, froh zu sein, dass sie hier sein dürfe.

Über die Möblierung des neuen Heims unserer Eltern und das Einleben im Doppelzimmer gäbe es vieles zu berichten. Immerhin mussten auf kleinem Raum ein Rollstuhl und zwei Rollatoren Platz finden, nebst zwei Betten mit Nachttischen, einem Tisch und zwei Stühlen sowie einem Möbel für den grossen TV und einer Vitrine für etwas Geschirr usw. Die zwei Einbauschränke boten nur sehr wenig Platz für die Kleider von zwei Personen, auch wenn für saisonal nicht Gebrauchtes noch ein Kleiderschrank im Keller zur Verfügung stand. Also brauchte es auch noch eine Kommode. Viele Hin- und Herfahrten später war schliesslich ein gemütliches und funktionelles Zimmer eingerichtet, von dem beide sagten, es gefalle ihnen und sie fühlten sich wohl darin.

Als nächstes standen die Vollmachtregelungen an. Die Eheleute kamen überein, mich als die älteste aller Kinder mit der Vollmacht für beide zu betrauen. Erst später wurde mir klar, was die Heimleiterin mit ihrer Bemerkung «Oh je, Sie Arme!» ausdrückte, als ich ihr die entsprechenden Formulare übergab. In jenem Moment fühlte ich mich nämlich noch ziemlich erleichtert.

Jetzt musste die Wohnung geräumt und gekündigt werden. Uns graute davor, doch es gab kein Entrinnen. Viereinhalb Zimmer samt Keller warteten auf uns. Es war das erste und einzige Mal, dass wir angeheirateten Stiefgeschwister zu dritt eine Ferienwoche miteinander verbrachten. Mein Bruder hielt sich vornehm zurück mit dem Verweis, dass er keine Zeit habe, extra in die Schweiz zu reisen.
Es ist ein eigenartiges Gefühl, alle die Gegenstände, Kleider, Briefschaften, Fotos, Haushaltsachen und Kinderspielsachen zu sichten, die unsere Eltern in ihren sehr bewegten Lebensjahren aufbewahrt, gesammelt, gekauft und geliebt hatten! Und das Schlimmste: Für die jetzt weder Platz noch Verwendungsmöglichkeiten warenNoch jetzt kommen mir Tränen im Gedanken daran, wie wir Dinge dem Brockenhaus überlassen mussten, für die unsere Eltern zum Teil jahrelang hatten sparen müssen, die sie sich gegenseitig geschenkt und sich daran gefreut hatten, auf die sie viele Jahre sehr stolz gewesen warenNoch heute fühle ich mich mies bei diesen Gedanken
Je ein Karton mit Rosenthal Porzellan und mit Zinnkannen und -bechern lagern bei mir im Keller. Das Zinn wird wohl eines Tages die Reise nach den USA antreten, da mein Bruder kaum mehr in die Schweiz kommen wird. Was ich mit dem Porzellan machen soll unserem Feiertagsgeschirr (ja, so etwas hatte man früher!) weiss ich auch bald sechs Jahre später noch immer nicht.

Heute frage ich mich, ob wir vielleicht einen grossen Fehler machten, als wir die Eltern, vor allem I., nicht mitgenommen haben zum Räumen oder nachher, um sich von der geräumten Wohnung zu verabschieden.
Natürlich wäre es sehr umständlich und teuer gewesen, Mutter jedes Mal mit dem Behinderten-Taxi hin und zurück zu transportieren; eine Transportart, vor der sie sich zudem fürchtete (nach einem früheren Kuraufenthalt in einer Reha-Klinik). Natürlich hätte es wieder viele unschöne Diskussionen über den Umstand gegeben, dass wir Kinder alle über der Lebensmitte keinen Bedarf für alle diese Gegenstände hatten und es nicht lieblos, sondern eine Platz- und Energiefrage war, dass wir das Brockenhaus kommen liessen, statt alles unter uns aufzuteilen oder auf einer Internetplattform zum Kauf anzubieten. Aber vielleicht könnte Mutter heute, in ihrem Sterbeprozess, besser damit umgehen, dass sie in Urdorf keine Wohnung mehr hat.
Fragen, auf die es keine Antwort gibt.

Erwähnenswert scheinen mir als Nebenschauplätze einerseits die zähen Verhandlungen mit dem Vermieter (Liegenschaftsabteilung eines Detailhandelsmultis mit sozialem Ursprung) über die ausserterminliche Kündigung, die Renovation und die Reinigung kurz vor der unmittelbar bevorstehenden baulichen Gesamtrenovation (Totalerneuerung von Nasszonen und Küche).
Und dann wären da noch die Kapitel «Hilflosen-Entschädigung» und «Ergänzungsleistungen als Zusatzleistungen zur AHV» zu nennenDazu nur soviel: Weil einer der Ärzte vier Monate brauchte, um das Formular zu unterschreiben, ging Mutter ein ganzes Jahr an Hilflosen-Entschädigung verlustig. Und weil Sachbearbeiterinnen bei der SVA mehrmals übersahen, dass I. Hilflosen-Entschädigung bekommt, waren eines schönen Tages CHF 10'000.00 an «missbräuchlich» empfangenen Zusatzleistungen innerhalb von 30 Tagen zurück zu zahlen. Obwohl ich beweisen konnte, dass der gravierende Fehler in der SVA gemacht worden und trotz mehrfacher Neuberechnung übersehen worden war, änderte sich an dieser Verfügung nichts. Wichtiges Detail: Das Geld zur Bezahlung dieser grossen Summe musste ich vom gerne zitierten "Freibetrag" des Vermögens nehmen.
Zwei juristische Experten für Sozialversicherungsrecht formulierten es so: «§ 1: In Fällen wie diesen hat die SVA immer recht. § 2: Sollte die SVA hier einmal nicht recht haben, tritt automatisch § 1 in Kraft. Daran ändert auch die sogenannte Rechtsmittelbelehrung nichts.» Mit anderen Worten: Sich gegen die SVA zu wehren ist zwecklos!

Es waren viele harte, kräftezehrende Monate zu meistern wohlverstanden neben dem «Daily Business» für den Broterwerb. Erschöpfung drohte zu einem Dauerzustand zu werden. Dieser ganze Prozess hat meinen Respekt und meine Achtsamkeit für mein eigenes Altern jedenfalls enorm vergrössert.