Dienstag, 19. August 2014

Coupe au Kirsch

8.7.2014

Der schwierige Wetterwechsel ist vorbei, heute ist ein kalter Regentag, an dem ausser den hohen Fruchtständen nichts an Hochsommer erinnert.
Kurz vor 16 Uhr treffe ich im Alterszentrum ein. Mutter döst im Bett. Ihre Stimme klingt kraftlos leise. «Schön, dass Du kommst.»
Gemäss Journal hat kurz vorher, um 15:45 Uhr, jemand 10 ml Rivella angeboten.
Auf dem Nachttisch stehen je ein Becher mit abgestandenem Coca-Cola (seit einiger Zeit ein von Mutter bevorzugtes Getränk), mehr als die Hälfte des sehr teuer verkauften (und verordneten) Preisselbeersaftes (von dem ich seit Monaten fordere, dass nur mehr täglich ein halbes Glas serviert werde), abgestandener Kaffee vom Mittagessen und Rivella.

«Möchtest Du etwas zum Zvieri?» «Ja gerne… … wenn es etwas Feines hat.» «Und zum Trinken: Kaffee, Tee oder eine warme Schokolade?» «Schokolade.» Mutter hat gerne Glacé. Im Tiefkühler der Cafeteria finde ich «Coupe au Kirsch». Das hatte ihr auch schon gut geschmeckt, also wähle ich dies. 



Mutter freut sich sichtlich über den Kirsch-Coupe und isst fast die Hälfte davon. Auch die Schokolade schmeckt ihr, sie trinkt bis 17:15 Uhr rund 50 ml, was für ihre Verhältnisse eine grosse Menge in kurzer Zeit bedeutet. «Hast Du auch gerne warme Schoggi?» flüstert sie. «Ja klar, und wie! Das ist einer meiner Seelentröster und tut besonders gut an kalten Tagen wie heute.» «Ja, Seelentröster. Das stimmt.» «Und der Hund?» «Was ist mit dem Hund?» «Hat er auch gerne warme Schoggi?» «Ich glaube schon, dass er das auch gerne hätte. Als Welpe bekommt er jedoch nichts davon, seine Verdauung ist noch sehr empfindlich, wie bei einem Poppi (Bébé).» «Siehst Du den Schnee dort?» zeigt I. mit der Hand in eine Richtung. «Ja, heute und morgen soll es bis etwa 2000 Meter schneien. Das kennen wir ja im Bergdorf: Jeden Monat schneit es einmal.» «Ja.»

«Hast Du schmerzen?» «Nicht sehr.» «Wie ist es mit dem Dekubitus?» «Viel besser!»

Mutter versucht mehrmals, mir etwas zu erzählen, von dem ich beim besten Willen nicht die geringste Ahnung habe, was sie meinen könnte. Überhaupt ist die Unterhaltung sehr schwierig geworden. Mutter flüstert meist undeutlich, dazwischen klingt ihre Stimme tief und rauh, worüber sie selber sehr zu erschrecken scheint.
Im Laufe des Sterbeprozesses habe ich schon oft beobachtet, dass es zu einem eigentlichen «Stimmbruch» kommt. Ob das bei I. auch zutrifft kann ich nicht schlüssig beurteilen, obwohl mir ihre tiefe Stimme seit dem 25.6., nach ihrem Zusammenbruch im Rollstuhl, auffällt.
Heute muss ich jedesmal das Ohr nahe zu ihr hinbeugen, damit ich sie verstehe. Dabei komme ich in Berührung mit ihrer Atemluft, welche nach Verwesung riecht.

Plötzlich klopft es resolut an die Zimmertüre und nach einer Weile betritt die Diakonin der ref. Kirche den Raum. Als sie mich sieht, will sie nicht stören und gleich wieder gehen. Ich fordere sie auf, Mutter doch «Guten Tag» zu sagen und ein paar Worte mit ihr zu wechseln, was der Gemeindehelferin sichtlich unangenehm ist. Und so klingt ihr Gruss mehr als eine Spur zu forsch und auch die Frage nach dem Befinden lädt keinesfalls zu einer Antwort ein. Mutter schweigt. Täusche ich mich, oder bemerke ich Anzeichen von Ablehnung bei ihr? (Die Informationen über diese Besuche sind jeweils ziemlich widersprüchlich.) «Kennen Sie mich denn noch?» will die Diakonin wissen. «Jaklar» haucht es aus den Kissen. Hilflos steht die Diakonin am Bett. Nach Minuten des Schweigens verabschiedet sie sich mit den Worten, sie wolle meinen kurzen Besuch nicht länger stören.

17 Uhr. Die Pflegehelferin kommt zum Umlagern und die Pflegefachfrau bringt Medikamente. Wir kennen beide schon seit Jahren. Ich beobachte, wie sie liebevoll sorgfältig den versteiften Körper umlagern und gut mit einem zweckentfremdeten Stillkissen abstützen. Auch die spastischen Beine werden sorgfältig mit Kissen gelagert. «Ist es überall bequem für Sie?» wollen die Pflegerinnen wissen. «Ja, danke.» Mutters Antwort
Ich bedanke mich bei den Pflegenden für alles, was sie Mutter zuliebe tun.

Als die Pflegehelferin nach der Medi-Eingabe das Zimmer verlassen hat, klagt Mutter, dass ihr jetzt der Dekubitus wieder starke Schmerzen verursache. Diese Klage wiederholt sie mehrmals, so dass ich frage, ob ich läuten soll. «Nein, das bringt nichts!» ihre klare Absage.

Gegen 17:30 Uhr verabschiede ich mich. «Mach's gut, Mami, ich komme wieder.» «Ja, ich gebe mir Mühe. Bringst Du mir dann wieder so feine Glacé mit?» «Ja natürlich, sehr gerne!» «Heb dr Sorg!» fordert sie mich auf und «Sag G. einen Gruss und dem Hündli auch nein, gib dem ein Streicherli.»

Auf der Heimfahrt und während des ganzen Abends spüre ich etwas von dieser ganz besonderen, friedvollen, leisen Atmosphäre, die den heutigen Besuch umgeben hat. Ob sich Mutter hat ergeben, ihren Kampf hat aufgegeben können? Ob sie ihr Schicksal jetzt akzeptieren kann?

Seit ich denken kann, kenne ich Mutter als resolute, wehrhafte Frau, die immer und gerne gekämpft und das Zepter selber geführt hat. Und jetzt darf ich diese friedvolle, feinsinnige, zärtliche Seite meiner Mutter auch noch kennenlernen. Ein bisschen jene Zärtlichkeit erahnen, die zu spüren ich mir zeitlebens gewünscht habe. Eine Erfahrung, die mich tief berührt und mit Dankbarkeit erfüllt.
Gleichzeitig macht es mich etwas traurig, dass mein Bruder diese Erfahrung nicht auch machen kann. Nun, es liegt in seiner Verantwortung.
Ich kehre zur Dankbarkeit zurück und zu meinem inneren Frieden.


Mein Wunsch: Es wäre schön, wenn Mutter ihr Leben in dieser Stimmung abschliessen könnte.