8.7.2014
Der schwierige
Wetterwechsel ist vorbei, heute ist ein kalter Regentag, an dem ausser den
hohen Fruchtständen nichts an Hochsommer
erinnert.
Kurz vor 16 Uhr treffe ich
im Alterszentrum ein. Mutter döst im
Bett. Ihre Stimme klingt kraftlos leise. «Schön, dass
Du kommst.»
Gemäss Journal hat kurz vorher, um 15:45 Uhr,
jemand 10 ml Rivella angeboten.
Auf dem Nachttisch stehen
je ein Becher mit abgestandenem Coca-Cola (seit einiger Zeit ein von Mutter
bevorzugtes Getränk), mehr als die Hälfte des sehr teuer verkauften (und
verordneten) Preisselbeersaftes (von dem ich seit Monaten fordere, dass nur
mehr täglich ein halbes Glas
serviert werde), abgestandener Kaffee vom Mittagessen und Rivella. —
«Möchtest Du etwas zum Zvieri?» «Ja gerne… … wenn es etwas Feines hat.» «Und zum
Trinken: Kaffee, Tee oder eine warme Schokolade?» «Schokolade.» — Mutter
hat gerne Glacé. Im Tiefkühler der Cafeteria finde ich «Coupe au
Kirsch». Das hatte ihr auch schon gut geschmeckt, also wähle ich dies.
Mutter freut sich sichtlich
über den Kirsch-Coupe und isst fast die Hälfte davon. Auch die Schokolade schmeckt ihr,
sie trinkt bis 17:15 Uhr rund 50 ml, was für ihre
Verhältnisse eine grosse Menge in kurzer Zeit
bedeutet. «Hast
Du auch gerne warme Schoggi?» flüstert
sie. «Ja
klar, und wie! Das ist einer meiner Seelentröster und tut besonders gut an kalten Tagen wie heute.» «Ja,
Seelentröster. Das stimmt.» — «Und der
Hund?»
«Was ist
mit dem Hund?»
«Hat er
auch gerne warme Schoggi?» «Ich glaube schon, dass er das auch gerne hätte. Als Welpe bekommt er jedoch nichts davon,
seine Verdauung ist noch sehr empfindlich, wie bei einem Poppi (Bébé).» — «Siehst
Du den Schnee dort?» zeigt I. mit der Hand in eine Richtung. «Ja,
heute und morgen soll es bis etwa 2000 Meter schneien. Das kennen wir ja im Bergdorf: Jeden Monat schneit es einmal.» «Ja.»
«Hast
Du schmerzen?»
«Nicht
sehr.»
— «Wie ist
es mit dem Dekubitus?» «Viel besser!»
Mutter versucht mehrmals,
mir etwas zu erzählen, von dem ich beim
besten Willen nicht die geringste Ahnung habe, was sie meinen könnte. Überhaupt
ist die Unterhaltung sehr schwierig geworden. Mutter flüstert meist undeutlich, dazwischen klingt ihre
Stimme tief und rauh, worüber sie
selber sehr zu erschrecken scheint.
Im Laufe des
Sterbeprozesses habe ich schon oft beobachtet, dass es zu einem eigentlichen «Stimmbruch» kommt.
Ob das bei I. auch zutrifft kann ich nicht schlüssig beurteilen, obwohl mir ihre tiefe Stimme seit dem 25.6., nach ihrem
Zusammenbruch im Rollstuhl, auffällt.
Heute muss ich jedesmal das
Ohr nahe zu ihr hinbeugen, damit ich sie verstehe. Dabei komme ich in Berührung
mit ihrer Atemluft, welche nach Verwesung riecht.
Plötzlich klopft es resolut an die Zimmertüre und nach einer Weile betritt die Diakonin
der ref. Kirche den Raum. Als sie mich sieht, will sie nicht stören und gleich wieder gehen. Ich fordere sie
auf, Mutter doch «Guten
Tag»
zu sagen und ein paar Worte mit ihr zu wechseln, was der Gemeindehelferin
sichtlich unangenehm ist. Und so klingt ihr Gruss mehr als eine Spur zu forsch
und auch die Frage nach dem Befinden lädt
keinesfalls zu einer Antwort ein. Mutter schweigt. Täusche ich mich, oder bemerke ich Anzeichen von
Ablehnung bei ihr? (Die Informationen über
diese Besuche sind jeweils ziemlich widersprüchlich.) «Kennen
Sie mich denn noch?» will die Diakonin wissen. «Ja… klar» haucht es aus den Kissen. Hilflos steht die
Diakonin am Bett. Nach Minuten des Schweigens verabschiedet sie sich mit den
Worten, sie wolle meinen kurzen Besuch nicht länger stören.
17 Uhr. Die Pflegehelferin
kommt zum Umlagern und die Pflegefachfrau bringt Medikamente. Wir kennen beide
schon seit Jahren. Ich beobachte, wie sie liebevoll sorgfältig den versteiften Körper umlagern und gut mit einem
zweckentfremdeten Stillkissen abstützen.
Auch die spastischen Beine werden sorgfältig mit
Kissen gelagert. «Ist
es überall bequem für Sie?»
wollen die Pflegerinnen wissen. «Ja, danke.» Mutters Antwort
Ich bedanke mich bei den
Pflegenden für alles, was sie Mutter
zuliebe tun.
Als die Pflegehelferin nach
der Medi-Eingabe das Zimmer verlassen hat, klagt Mutter, dass ihr jetzt der
Dekubitus wieder starke Schmerzen verursache. Diese Klage wiederholt sie
mehrmals, so dass ich frage, ob ich läuten
soll. «Nein,
das bringt nichts!» ihre klare Absage.
Gegen 17:30 Uhr
verabschiede ich mich. «Mach's gut, Mami, ich komme wieder.» «Ja, ich
gebe mir Mühe. — Bringst Du mir dann wieder so feine Glacé mit?» «Ja natürlich,
sehr gerne!»
— «Heb dr
Sorg!»
fordert sie mich auf und «Sag G. einen Gruss und dem Hündli auch — nein,
gib dem ein Streicherli.»
Auf der Heimfahrt und während des ganzen Abends spüre ich etwas von dieser ganz besonderen,
friedvollen, leisen Atmosphäre, die
den heutigen Besuch umgeben hat. Ob sich Mutter hat ergeben, ihren Kampf hat aufgegeben
können? Ob
sie ihr Schicksal jetzt akzeptieren kann?
Seit ich denken kann, kenne
ich Mutter als resolute, wehrhafte Frau, die immer und gerne gekämpft und das Zepter selber geführt hat.
Und jetzt darf ich diese friedvolle, feinsinnige, zärtliche Seite meiner Mutter auch noch
kennenlernen. Ein bisschen jene Zärtlichkeit
erahnen, die zu spüren ich
mir zeitlebens gewünscht
habe. Eine Erfahrung, die mich tief berührt und mit Dankbarkeit erfüllt.
Gleichzeitig macht es mich etwas
traurig, dass mein Bruder diese Erfahrung nicht auch machen kann. — Nun, es
liegt in seiner Verantwortung.
Ich kehre zur Dankbarkeit
zurück und zu meinem inneren Frieden.
Mein Wunsch: Es wäre schön, wenn
Mutter ihr Leben in dieser Stimmung abschliessen könnte.